Mit dem Pflegestärkungsgesetz II (Drs. 18/5926, 18/6688), das der Bundestag am 13. November 2015 beschlossen hat, wird ein zentrales Vorhaben der SPD-Bundestagsfraktion endlich umgesetzt: der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff: Seine Einführung ist der Kern des Gesetzes.

Er sieht vor, dass im Gegensatz zum bisherigen Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht nur die körperlichen Einschränkungen von Menschen berücksichtigt werden. Künftig werden körperliche, geistige und psychische Beeinträchtigungen der Selbständigkeit von Menschen gleichermaßen einbezogen. Dadurch werden Einschränkungen von Demenzkranken und psychisch Kranken gleichrangig in der Begutachtung behandelt.

Damit hat die Große Koalition 20 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung und nach der Verabschiedung des Pflegestärkungsgesetzes I im vergangenen Jahr nun mit dem Pflegestärkungsgesetz II einen Meilenstein in der Sozialversicherungsreform gesetzt. Das geht vor allem auf die jahrelange inhaltliche Vorbereitung der SPD-Fraktion zurück.

Quantensprung in der Pflegeversicherung

„Wir geben unmittelbar etwa 20 Prozent mehr für die Pflege aus. Etwa drei bis vier Prozent legen wir zusätzlich zurück, um die Pflege bezahlbar zu halten. Das sind großartige Leistungsausweitungen“, sagte SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach in der Plenardebatte. Es sei richtig, dass das Geld anders verteilt werde: Für die weniger Pflegebedürftigen gebe es eine leichte Mehrbelastung. Doch viele Menschen, die stärker pflegebedürftig seien, würden stärker entlastet. „Das ist wichtig, weil viele Pflegebedürftige aus Angst, dass ihre Ange-hörigen mehr zuzahlen müssen, nicht in die nächst höhere Pflegestufe wechseln wollten“, stellte Lauterbach klar. Zudem werde die Pflege entbürokratisiert, weil bewertet werde, was ein Mensch noch selbständig kann und wie es psychisch um die Person bestellt sei. „Wir gehen weg von der Minutenpflege und bewerten den Grad der Selbstständigkeit, um so die Pflegebedürftigkeit zu definieren“, unterstrich Lauterbach. An die Opposition gerichtet: „Das sollte man nicht kleinreden, das ist ein Quantensprung!“

Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff wird gesellschaftlich breit unterstützt

„Mein Dank gilt allen, die seit neun Jahren an diesem Reformvorhaben mitgewirkt haben: den Wohlfahrtsverbänden, den Gewerkschaften und den beiden Beiräten“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis. Letztere hätten die Grundlage für den Gesetzentwurf geliefert. „Die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird von allen gesellschaftlichen Kräften unterstützt“, stellte Mattheis klar. Sie erläuterte, warum die wissenschaftliche Begleitung und Erprobung des neuen Systems zur Bemessung des Personal-bedarfs fünf Jahre benötige: „Wir wollen keinen Schnellschuss und es wird nachgeliefert“. Das sei nicht das Ende der Reform der Sozialversicherungssysteme, denn das Ziel bleibe für die SPD-Fraktion die Bürgerversicherung in der Pflege.

„Heute wird eine Gerechtigkeitslücke geschlossen“, sagte Mechthild Rawert, die zuständige Berichterstatterin der SPD-Fraktion. Nicht das „Geschachere“ in der Pflege um die Minuten, sondern der Mensch mit seinen Ressourcen rücke in den Blick. Das neue Begutachtungsverfahren sei transparenter, gerechter und nachvollziehbarer für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, und es sei eine würdevollere Bewertung.

Das bringt das neue Gesetz:

Aus drei Pflegestufen werden fünf Pflegegrade

Ab 2017 sollen fünf so genannte Pflegegrade die bisherigen drei Pflegestufen ersetzen. Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen wird mittels eines neuen Verfahrens anhand von sechs Merkmalen überprüft, wie der Grad der Selbstständigkeit einer Person zu bewerten ist. Dazu zählen die Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Damit wird der individuelle Bedarf bei Pflegebedürftigen sehr viel genauer ermittelt.

Mit der Einführung der Pflegegrade setzt auch die Unterstützung früher an. Denn der Pflegegrad 1 erreicht Menschen, die bisher keine Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten haben. Sie haben einen deutlich geringeren Unterstützungsbedarf. Sie benötigen zum Beispiel bauliche Anpassungen in der Wohnung oder eine Begleitung beim Spazierengehen, damit eine Verschlechterung der Pflegebedürftigkeit möglichst aufgehalten werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass künftig 500.000 Menschen einen Anspruch auf Leistungen des Pflegegrads 1 haben werden.

Für Pflegebedürftige, die vollstationär versorgt und betreut werden, wird der zu leistende pflegebedingte Eigenanteil mit zunehmender Pflegebedürftigkeit nicht mehr wie bisher ansteigen. Künftig bezahlen alle Pflege-bedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 einen pflegebedingten Eigenanteil in gleicher Höhe. Dieser wird in den Pflegeheimen unterschiedlich ausfallen. Es wird davon ausgegangen, dass der pflegebedingte Eigenanteil im Bundesdurchschnitt im Jahr 2017 bei 580 Euro liegen wird. Damit beseitigt die Koalition eine soziale Ungerechtigkeit, denn Pflegebedürftige aus Familien mit geringem Einkommen haben in der Vergangenheit den Übergang in eine höhere Pflegestufe abgelehnt, um ihre Angehörigen zu schonen.

Alle, die bereits Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, werden per Gesetz automatisch ohne erneute Begutachtung in das neue System überführt. Niemand wird schlechter gestellt, die meisten erhalten sogar deutlich mehr Leistungen.

Hauptleistungsbeträge der fünf Pflegegrade

Leistung Pflegegrad 1 Pflegegrad 2 Pflegegrad 3 Pflegegrad 4 Pflegegrad 5
Geldleistung ambulant 125 Euro* 316 Euro 545 Euro 728 Euro 901 Euro
Sachleistung ambulant 689 Euro 1298 Euro 1612 Euro 1995 Euro
Leistungsbetrag stationär 125 Euro 770 Euro 1262 Euro 1775 Euro 2005 Euro

(*Als Geldbetrag, der für Erstattung der Betreuungs- und Entlastungsleistungen zur Verfügung steht.)

Mit dem Pflegestärkungsgesetz II wird auch der Grundsatz „Reha vor Pflege“ gestärkt. Denn Rehabilitationsmaßnahmen können Pflegebedürftigkeit verhindern, hinauszögern und Verschlechterungen vorbeugen.

Künftig müssen alle ambulanten Pflegedienste neben körperbezogenen Pflegeleistungen und Hilfen bei der Haushaltsführung auch so genannte pflegerische Betreuungsleistungen (Begleitung beim Spaziergang, vorlesen usw.) anbieten. Ebenso müssen die stationären Pflegeeinrichtungen pflegerische Betreuungsleistungen für die Pflegebedürftigen bereitstellen.

Mehr Leistungen für pflegende Angehörige

Die Pflegeversicherung wird künftig für deutlich mehr pflegende Angehörige Rentenbeiträge einzahlen. Zu-dem verbessert sich der Versicherungsschutz für pflegende Angehörige in der Arbeitslosenversicherung. Dar-über hinaus wird die Pflegeberatung für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige qualitativ verbessert.

Personalbedarf fundiert ermitteln und Pflege-TÜV neu ausrichten

Gute Pflege braucht eine bedarfsgerechte personelle Ausstattung. Deshalb wird mit dem Pflegestärkungsgesetz II ein Gremium mit Expertinnen und Experten beauftragt, bis 2020 ein fachwissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Personalbemessung zu entwickeln. Des Weiteren werden die Regelungen zur Qualitätssicherung, -prüfung und -darstellung grundlegend überarbeitet und die Entscheidungsstrukturen der Selbstverwaltung gestrafft. Der so genannte Pflege-TÜV wird neu ausgerichtet.

Gute Pflege kostet Geld

Um auch künftig eine menschenwürdige Pflege bei steigender Anzahl von Pflegebedürftigen gewährleisten zu können, ist der Beitragssatz der Pflegeversicherung mit dem Inkrafttreten des Pflegestärkungsgesetz I zum 1. Januar 2015 um 0,3 Beitragssatzpunkte angehoben worden. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II steigt der Beitragssatz ab 1. Januar 2017 um weitere 0,2 Beitragssatzpunkte auf 2,55 Prozent (2,8 Prozent für Kinderlose). Die Erhöhung tragen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu gleichen Teilen. Diese Erhöhung war bereits im Koalitionsvertrag vorgesehen worden.

Ein weiterer Baustein in der Pflegereform wird das Pflegeberufegesetz sein, das noch in dieser Legislaturperiode beschlossen werden soll.